Karin Witte

Malerei Grafik Objekt

Über Karin Witte

Uwe Haupenthal

Imaginative Gegenwärtigkeit des Figürlichen. Anmerkungen zum künstlerischen Schaffen Karin Wittes

Es ist ein Arbeiten mit Linien und Flecken. Und diese umreißen eine zumeist summarisch angelegte bildnerische Form. Oder aber mehrere Bildformen treten in Konkurrenz zueinander und lösen eine Bildhandlung aus. – Keineswegs erschließt sich Karin Wittes Bildwelt auf den sprichwörtlich ersten Blick. Mit gebotener Konsequenz verweigert sie sich der raschen und womöglich vordergründigen und klischeehaft besetzten visuellen Inbesitznahme von gesehener respektive erlebter Wirklichkeit. Gleichwohl zeichnen sich ihre Bilder durch eine klare und für den Betrachter stets einsehbare Ordnung aus. Schemenhafte Figürlichkeit findet sich neben einer einfachen und bis zu einem Grenzbereich reduzierten Objektbeschreibung. Daneben aber auch die Erfahrung des Landschaftlichen oder aber, allgemeiner formuliert: das Wissen um eine die Rudimente des Abbildlichen bedingende Räumlichkeit.

Die Bildfläche mutiert auf diese Weise zu einem Ort der bildnerischen Handlung, die nicht nur augenscheinlich möglichst lange offen gehalten, sondern zu keinem definitiv verbindlichen, sich inhaltlich erschöpfenden Ende gebracht wird. Der Umgang mit der Materialität des Papiers, des Acrylglases, der Leinwand, mit Bleistift, Kreide oder Zeichenkohle und vor allem mit dickflüssig-deckender oder wässrig aufgetragener Farbe, die Montage von Versatzstücken, die spätere teilweise oder vollkommene Übermalung bestimmter Partien und eine damit einhergehende Prozessualität thematisieren nicht nur die von außen nachvollziehbare Entstehung des Bildes als solche und halten es gleichsam in der Schwebe, sondern sie vermitteln zugleich den konfrontativ erlebten Gegenpol einer fremden, sich schier übermächtig gebenden visuellen Eigenmächtigkeit. Will heißen: Die Binnenstrukturen dieser Bilder resultieren nicht länger aus einer vorbestimmten und folglich bloß abbildend wiedergegebenen Form, sondern sie gründen in einer per definitionem autonom konzipierten, sich vor den Augen des Betrachters frei entfaltenden Verfasstheit. Der bildnerische Ausdruck geht folglich über das in der Wirklichkeit gesehene Bild hinaus, wenngleich er dieses auch nicht gänzlich ausschließt, sondern es vielmehr als ein noch immer verbindlich erachtetes, weil u. a. ordnendes Korrektiv zulässt. In gleicher Weise und mit derselben Intensität zielt Karin Witte auf das Moment des Zufälligen und Unkontrollierbaren. Das aber prägt das Erscheinungsbild in einem entscheidenden Maße. „Das Unerwartete“, so die Künstlerin in einem Text aus dem Jahre 2004, „hatte mich aufs Ganze herausgefordert, überrumpelt und schließlich besiegt. Es war einfach da, das –, von dem ich nichts weiß. Namenlos, nicht ver- oder bekleidet, vollkommen neu. Könnte ich es mir doch herbeiwünschen! Aber es geschieht nur aus sich selbst.“1

Einschnitt,
 2010,
 Acryl,
 Collage,
 34,5 x 26 cm

Einschnitt, 2010, Acryl, Collage, 34,5 x 26 cm

Offene Strukturen führen ein Eigenleben, die zunächst nichts abbilden, wohl aber im Umkehrschluss eine allgemeine Erinnerung an etwas Bekanntes und womöglich Gesehenes erzeugen. Vor allem aber setzen sie ein visuelles Potential frei, das konventionalisierte Erkenntnisweisen von vornherein in seiner Begrenztheit überwindet und einen oft überraschenden Zugang ermöglicht. Dieser gründet in der optischen Übermacht prinzipiell freier, weil begrifflich unbesetzter, in ihrer Wirkung überraschender, weil sui generis indifferent und fremd anmutender Strukturen. Sie ereignen sich, doch sind sie nicht plan- oder garberechenbar, wie Karin Witte zu Recht betont. Vor allem aber geben sie sich ungebunden und zeigen sich jenseits bestimmter, vorgegebener Muster als bedingungslos vorgetragener Ausdruck von Lebenskraft.
Eine kommunikative Konstellation, die, wie auch von Karin Witte mittelbar angesprochen, den Künstler wie den Betrachter in ein aktives Verhältnis zu den ästhetisch offenen Strukturen ihrer Werke setzt. Es geht demnach im Allgemeinen nach Umberto Eco „um die Kommunizierbarkeit eines Aktes der Vitalität; um die absichtliche Provokation eines in einem bestimmten Raum eingegrenzten Spiels freier Reaktionen“2. Zweifelsohne eine Gratwanderung, die jedoch noch immer deutliche, wenn nunmehr auch weit abgesteckte Grenzen kennt. In diesem Sinne argumentiert Eco, wenn er schreibt: „Wir leben in einer Kultur, für die die Einladung zur Freiheit der visuellen und imaginativen Assoziationen noch durch die artifizielle Anordnung eines Gemachten gemäß bestimmten suggestiven Intentionen hervorgerufen wird. Und in der man vom Betrachter fordert, daß er nicht nur frei den Assoziationen folgt, die der Komplex der artifiziellen Reize ihm suggeriert, sondern daß er, im gleichen Augenblick, in dem er sich daran freut (und danach in der Reflexion über seine Freude), den Gegenstand, der diese Erfahrung in ihm hervorrief, beurteilt. Es kommt, anders ausgedrückt, abermals zu einer Dialektik zwischen dem Werk und der Erfahrung, die ich damit mache, und es wird gefordert, daß ich das Werk auf der Grundlage meiner Erfahrung beurteilen und meine Erfahrung auf der Grundlage des Werkes kontrollieren soll.“3

Eco umreißt einen allgemeinen Rahmen, in dem sich auch Karin Wittes Kunst ereignet, bzw. er gibt im Begriff der „artifiziellen Anordnung eines Gemachten“ eine zwar offene, aber dennoch verbindliche Zielvorstellung vor. In ihr begegnen sich Künstler und Betrachter als gleichberechtigte Partner auf ein und derselben Stufe. Sie sind aufgefordert, sich auf intuitivem Wege jedes Werk von Neuem, d. h. von einem, im wahrsten Sinne des Wortes, imaginierenden Nullpunkt aus, anzueignen. Eine Konstellation, die unabdingbar eine formal wie inhaltlich offene Bildstruktur voraussetzt und deren abbildlicher Gehalt oft nicht mehr rekonstruierbar erscheint, wenngleich dieser noch immer mittelbar, mit Blick auf die kompositorische Anordnung, erahnbar ist. Ein Blatt wie „Einschnitt“ aus dem Jahre 2010 (Abb. S. 29) präsentiert eine klare und leicht einsehbare, farblich differenziert wiedergegebene Anlage, die offensichtlich über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden ist, so dass davon auszugehen ist, dass frühere Zustände ganz oder zumindest teilweise überdeckt wurden. In die Mitte des Bildes klebte Karin Witte in einem späteren Stadium eine autonome, teils ausgeschnittene, teils gerissene Teilkomposition, die zum einen nunmehr das eigentliche Zentrum bestimmt, zum anderen jedoch auch neue bildnerische Anreize bietet. So fügte sie etwa die Partie verschiedener farbiger Flecken am unteren Bildrand sichtbar später ein, während die rote Fläche am linken Bildrand bereits vorhanden war. Zwei bildnerische Wirklichkeitsebenen stoßen aufeinander und bilden dennoch eine neue Einheit, indem sich die vorgefundenen augenfälligen Kompositionslinien entweder von vornherein ergänzen oder aber kaum merklich aufeinander abgestimmt wurden. Aus verschiedenen „Ausgangsmaterialien“ entstand eine große Komposition, in der sich malerische Strukturen, geometrisch-konstruktive lineare Setzungen und kaum ausdeutbare Rudimente des Abbildlichen eine künstlerisch definierte Metaebene bestimmen. Freie, fleckartige Formen, malerisch angelegte Flächen, die Erfahrung des Materials, vor allem aber das Moment des Kombinatorischen beschreiben indes nicht nur eine eigenwertige Konstellation, sondern sie erzeugen eine den Betrachter unmittelbar und ungeschützt berührende Nähe zu gesehener bzw. erlebter Wirklichkeit. Mag man bei näherer Betrachtung in der das Blatt überwölbenden blau-roten Winkelung auch eine Art Hausform und in der hellbraunen Fläche deren Binnenraum erkennen, so kann diese doch keineswegs semiotische Verbindlichkeit reklamieren. Für Karin Witte zählt im Umkehrschluss gerade eine möglichst freie und daher elementare bildnerische Anlage. Linienverbände oder Farbflecken suchen, jenseits abbildlicher Gebundenheit, einen eigenen Duktus, der jedoch noch immer, oder besser: erneut und gegen konventionalisierte Regelungen, eine prozesshaft konzipierte und daher intuitiv offene Erfahrung von Realität wiedergibt. Dennoch bedingt diese noch immer eine bildinitiierende Verbindlichkeit. Der Bildaufbau erscheint daher keineswegs willkürlich oder zufällig. D. h., Karin Wittes Bilder entstehen niemals ohne einen konkreten und ursprünglich benennbaren Anlass. Ob dieser gesehen oder persönlich erlebt wurde, womöglich gar eine bestimmte Geschichte erzählt, spielt zunächst eine nachgeordnete Rolle, da es auf der Bildfläche alsbald in dynamischem Vortrag zu gegenseitigen Durchdringungen kommt. Die Malerin und, im Nachhinein, der Betrachter müssen sich neuerlich zurechtfinden, indem sie die bildnerische Anlage wie die Verkürzungen des Inhaltlichen abermals bewerten.

Ein Prozess, der zu keinem erschöpfenden Abschluss kommen kann, wenngleich sich die Semantik im Vergleich mit anderen Bildern zumindest bis zu einem gewissen Grad erschließt. Dies gilt zum einen für die vielfach eingebrachten figuralen Schemata, zum anderen für die Definition von kubischen Formen oder Binnenräumen respektive für die damit einhergehenden, grafisch oder malerisch wiedergegebenen Relationen zwischen Figuren oder einzelnen Formen. Gegenüber beiden schließt Karin Witte eine mögliche Nähe und folglich eine individuell begründete Beschreibung von vornherein aus. Unvoreingenommen akzeptiert sie im Gegenzug die Weite des vorgefundenen, ungegliederten Bildraumes. Ihm wird eine strukturelle Wertigkeit zugestanden. Folglich besitzt die aufgebrachte Farbe eine indifferente, fleckig-schlierenartige Konsistenz.

Jetzt,
 2001,
 Acryl,
 Kohle,
 Kugelschreiber,
 Collage,
 72,5 x 101,5 cm

Jetzt, 2001, Acryl, Kohle, Kugelschreiber, Collage, 72,5 x 101,5 cm

Gleiches gilt für das Erscheinungsbild der Linien, die sich in ihrem Verlauf betont zufällig und nur bedingt kontrolliert geben, wodurch die Zeichnung zuvorderst die Vorstellung von einem Status nascendi vermittelt oder aber die erste Annäherung an etwas Abbildliches wiedergibt und im Gegenzug die apodiktisch vorgetragene Sicherheit von etwas bereits Gewusstem und verbindlich Präsentiertem weithin ausmerzt. Einmal mehr bestimmt die als reales Faktum erlebte, beinahe greifbare Wirklichkeit der Leere den bildnerischen Prozess, der somit per definitionem nicht länger vorgegeben, sondern immer wieder aufs Neue initiiert und begründet, verworfen und vor allem errungen wird. Es entsteht eine emotionale Nähe zwischen Bild und Künstlerin bzw. dem Betrachter, der sich im Übrigen notgedrungen der schrittweisen, visuell begründeten Verdichtung in der Bildfindung aussetzen muss. Die Fläche als Ort der bildnerischen Erfahrung mutiert zu einem prinzipiell ungeschützten Raum, in dem die tektonisch-plastische Disposition von Form längstens der optisch flüchtigen Erscheinung gewichen ist. Kompositorisch eingestreute farbige Flächen etwa bestehen auf willkürlichem Formverlauf und lösen eine allgemeine, nichteuklidische, wenn auch suggestiv anmutende Wirkung aus. Gesehenes und Gewusstes, Formorientierung und Formlosigkeit, Erfahrenes und Gefundenes, farbige Dominanz und Negierung von zuvor Präsentem, Fragmente des Verbindlichen und zeitlich begründete Annäherung beschreiben eine komplexe Bildstruktur, die ebenso einen ästhetischen Wert an sich darstellt, wie sie vom Betrachter ergänzt und auf individuelle Weise fortgeschrieben und konkretisiert werden muss, freilich ohne in diesem Prozess jemals Verbindlichkeit zu erlangen, da sie mit der Erfahrung bildnerischer Autonomie, aber auch mit dem unbegrenzten Raum als Gegenpol konfrontiert wird. Vor allem erweist sich das intuitive Potenzial der Künstlerin, ihre Neugierde gegenüber dem Fremden und der damit einhergehende Wagemut als entscheidende Triebfeder in der künstlerischen Arbeit. – „Meine Bilder“, so Karin Witte, „beginnen sich mehr und mehr durch ihre eigenen Gesetze zu bestimmen. Sie verwandeln mich und werden zugleich durch mich verwandelt.“4

Hinter Hecken II,
 1978,
 Druckfarbe,
 Tusche,
 Kreide,
 Kohle,
 42,6 x 30,6 cm

Hinter Hecken II, 1978, Druckfarbe, Tusche, Kreide, Kohle, 42,6 x 30,6 cm

Der Blick auf die bildnerische Genese des Werkes von Karin Witte verweist nicht nur auf die motivische Ausgangslage, sondern begründet vor allem deren malerische bzw. grafische Disposition. Abbildliches wurde nach und nach in eine fleckartige Anlage überführt, wobei  es der Künstlerin zuvorderst um eine summarische, den Eindruck  des Körperlichen auflösende Anlage ging. Dabei schien zunächst die  Wiedergabe der gesehenen Wirklichkeit kaum in Frage gestellt. Was  stattdessen zählte, war die originäre Begründung eines bildnerischen Standpunktes vermittels systematischer Reduktion. Die Gartenlandschaft „Hinter Hecken II“ aus dem Jahre 1978 beispielsweise wurde in einem Sfumato auf den einfachen Kontrast  zwischen einem hellen Gebäude und einer linear gegliederten Parklandschaft reduziert, wobei diese zwar noch immer durch wenige  charakteristische Grüntöne als solche zu erkennen ist, wenngleich  das Abbildliche durch prononcierend gesetzte Pinselschläge übermalt und in seinem unmittelbaren Erkenntniswert zu Gunsten einer  rein malerisch begründeten Auffassung zurückgedrängt worden ist.  Dabei achtete Karin Witte auf einen klaren und eindeutigen kompositorischen Aufbau, der nicht nur eine räumliche Wirkung erzielt,  sondern überhaupt die visuell begründete Identifikation des Wirklichen ermöglicht.

 

Provence 1981,
 Kreide,
 35,7 x 25,7 cm

Provence 1981, Kreide, 35,7 x 25,7 cm

Provence 1981,
 Kreide,
 35,7 x 25,7 cm

Halt im Anzug, 1983, Tusche, Bleistift, 62,5 x 48 cm

Auch in dem Bild „Provence“ von 1981 deutet sich eine  vergleichbare Haltung gegenüber dem Wirklichen an, wobei Karin  Witte jedoch nunmehr die Landschaft als ein Gefüge verallgemeinernd angelegter Farbmassen wiedergibt. Einmal mehr erhält die  Farbmaterie den Wert einer amorphen Masse, die erst im Akt der  Gestaltung eine gewisse Bedeutung erfährt, zugleich aber erkennbar den vormaligen Status nicht gänzlich überwinden kann. Daraus  resultiert eine Art Zwitterstellung, innerhalb derer das Motiv der  Landschaft lediglich eine allgemeine Ordnungsfunktion behauptet,  jedoch keineswegs in den Zustand individueller Beschreibung gerät.  Während das Landschaftliche offenbar den Prozess sfumatohafter  Auflösung der gesehenen Wirklichkeit beschleunigte, weisen Karin  Wittes frühe Figurenbilder zunächst eine deutlichere plastischräumliche Prägnanz auf.

Provence 1981,
 Kreide,
 35,7 x 25,7 cm

Kauernde I, 1973, Radierung 17,2 x 24,9 cm

So zeigt die Zeichnung „Halt im Anzug“ von 1983  in typisierender Modellpose eine statisch sitzende,  gänzlich in sich gekehrte Frau in dick wattierter Jacke, freilich ohne das  Gesehene zu verfremden. Form erscheint in diesem Zusammenhang in  einer Art von körperlich-psychischer Verpuppung und bildet einen Gegenpol zu dem Werkkomplex der Radierungen aus, in denen Karin Witte  vielfach körperliche Nähe und Intimität thematisierte.

 

 

Schneiderpuppen,
 1982,
 Kreide,
 Kohle,
 33 x 36 cm

Schneiderpuppen, 1982, Kreide, Kohle, 33 x 36 cm

Gruppe II,
 1981,
 Öl auf Holz,
 131 x 80,5 cm,
 Stiftung Schleswig Landesmuseen Schloss Gottorf

Gruppe II, 1981, Öl auf Holz, 131 x 80,5 cm, Stiftung Schleswig Landesmuseen Schloss Gottorf

Erfahrung von Form und Körperlichkeit, Fläche und farblicher Materialität, Figur und Raum erschließen eine nach unterschiedlichen Seiten  hin ausgreifende, sich sukzessive verdichtende bildnerische Position, in  der gesehene respektive erlebte Wirklichkeit und eine freie, mitunter  gestisch angelegte bildnerische Anlage nicht länger antagonistische  Eckwerte bestimmen, sondern vielmehr in einen breiten Fluss münden.  Konzeptuell begründete Karin Witte ihre Haltung in einer Art von ‚motivischem Missing link’, indem sie sich immer wieder auf eine virtuelle,  sui generis künstlerisch transformierende Bildwelt beruft. Das Blatt  „Schneiderpuppen“ aus dem Jahre 1982 beispielsweise gibt eine zwar  nach wie vor eindeutig erkennbare Atelierszene mit verschiedenen Figuren wider. Auf den ersten Blick irritierend wirkt in dieser Zeichnung  hingegen die schematisierend-profilabhängige Ausrichtung der Figuren  von rechts nach links, was nicht nur eine szenisch-narrative Disposition  von vornherein ausschließt, sondern zugleich auch die noch immer eindeutig vorgegebene Anlage des Raumes zu sprengen scheint. Die Frage,  ob die Figuren im Vorder- und Mittelgrund der Zeichnung reale Figuren  oder aber, situationsbedingt, ebenfalls plastische Arbeiten benennen,  lässt sich daher nicht länger verbindlich beantworten. Die noch immer  eindeutige und unmissverständliche Wiedergabe des Innenraumes wird  vermittels dieser virtuellen, bühnenartig-demonstrativen Verfremdung  geweitet und der Atelierraum gar zu einem seelischen Erfahrungsraum.  Eine Disposition, die auch das Bild „Gruppe II“, 1981, bestimmt: Drei  leicht verzeichnete und in ihren Proportionen neu angeordnete Figuren  bilden eine Szene, in der insbesondere die dominierende mittlere Figur  zwischen angedeuteten Kulissen in hohem Raum eine gestisch-deklamatorische Haltung einnimmt und dadurch besondere, suggestiv anmutende Nähe zum Betrachter herstellt. Darüber hinaus scheinen die Figuren zuvorderst dem dunklen Hintergrund verpflichtet zu sein, was ihre  Existenz weniger von außen als vielmehr aus der Farbmaterie heraus  begründet.

Japanische Puppe,
 1982,
 Öl auf Leinwand,
 70 x 100 cm

Japanische Puppe, 1982, Öl auf Leinwand, 70 x 100 cm

Motive wie die hüllenartig wattierte Jacke, die schematisierte Kunstfigur, aber auch das verwandte Thema der Puppe und vor allem dasjenige  der Maske determinieren indes die Ausgangslage in Karin Wittes bildnerischem Schaffen. Wirkt doch in diesen Requisiten die  Frage nach einer vorgegebenen, semiotisch verpflichtenden Nähe zur  Wirklichkeit bereits gebrochen, da sie nicht nur eine beobachtete und  folglich fremde Ausgangslage, sondern zugleich auch den damit einhergehenden Anspruch einer medialen Übersetzung geradezu zwingend  voraussetzen. Auf diese Weise, d. h. sowohl aus der abbildlichen Gebundenheit als auch aus den Modalitäten elementarer grafisch-malerischer Gestaltung heraus, gelingt Karin Witte die transformierende Erfahrung des Wirklichen.

Kleider,
 1984,
 Druckfarbe,
 Acryl,
 47 x 51,3 cm,
 Privatbesitz

Kleider, 1984, Druckfarbe, Acryl, 47 x 51,3 cm, Privatbesitz

face a face,
 2000,
 Tusche,
 Kreide,
 Collage,
 36,5 x 28 cm

face à face, 2000, Tusche, Kreide, Collage, 36,5 x 28 cm

Ein Prozess mit offenem Ausgang, in dessen Verlauf die Künstlerin sich nach und nach aus den Zwängen abbildlicher Gebundenheit befreite. Im Gegenzug tariert sie die Relation zwischen einer festgefügten Formauffassung und dem Bildgrund zugunsten einer mehr lockeren Auffassung immer wieder aufs Neue aus. So weist etwa das schöne Blatt „Kleider“ von 1984 in seiner summarischen Anlage eine optisch differenzierte, zugleich feste und daher verbindlich erscheinende kompositorische Struktur aus, während das Blatt „face à face“ aus dem Jahre 2000 eine weithin ungebundene figurale Anlage zeigt. Deren abbildlicher Gehalt ist aus der faktischen Gegenüberstellung zweier Formkomplexe sowie aus wenigen erkennbaren Körperteilen ableitbar. Die deduktiv begründete Erfahrung des Bildfeldes als übergeordnete Größe hat einen bildnerisch entscheidenden Part übernommen. Farbige Linien und Strukturen befinden sich in lose gesetzter Ordnung, wenngleich diese auch, sozusagen als unabdingbares Äquivalent, ein abgestimmtes, überaus feines Gespür für die Farbe erkennen lässt.

Orientiert sich Karin Witte zunächst noch in der kompositorischen Anlage eines Bildes an einer bühnenartig gesehenen, letztendlich tradierten Raumauffassung, so treten die seit den 1990er-Jahren entstandenen Arbeiten in einen zunehmend diffus anmutenden Zustand, in dem sich die nahsichtig erlebte, vormals feste Form entweder allmählich auflöst oder aber indem sie durch partielle Übermalungen des Bildraumes in einen eigenwertig flirrenden, mitunter geradezu sphärisch wirkenden Zustand übergeht und allenfalls eine Annäherung zulässt. In diesem Sinne vermitteln Linien und fleckartig angelegte Flächen in Karin Wittes Bildern keine verbindlichen Größen. Vielmehr erzeugen sie die visuell begründete Vorstellung eines Zwischenschrittes, den es für den Betrachter in einer psychischen Kraftanstrengung zu konkretisieren und folglich zu vollenden gilt. Ein Unterfangen, das die Energien des Bildes ebenso auf den Betrachter überträgt, wie dieser im Umkehrschluss letztendlich die Verlebendigung des Bildes garantiert.

Deutlicher noch als in den kulissenähnlichen Bildern der 1980er-Jahre hebt Karin Witte nunmehr die narrative, stringent vorgetragene und daher geschlossen wirkende Raum-Zeit-Struktur auf und überführt diese in eine lose Konstellation, in der das räumlich Ungebundene, Schwebende, vermeintlich Zufällige einen tragenden, weil sich sukzessive verdichtenden Part übernommen hat.

Mag dieser Prozess auch vordergründig mit einem Verzicht auf verifizierbare Abbildlichkeit einhergehen, so gelingt Karin Witte in diesen Bildern zugleich die Übersetzung der mental erfahrenen figuralen Prä- senz in einen existenziell erweiterten, wenn nicht gar entgrenzten Zustand. Anders formuliert: Ging es ihr in ihren bis in die 1990er-Jahre entstandenen, oft großformatigen Bildern noch um eine oftmals als bestürzend empfundene menschliche Erfahrung, so transferiert sie diese mehr und mehr auf eine Metaebene, in der zwar die Figur oder aber der figurale Raum oftmals nicht länger unmittelbar in Erscheinung treten, deren Gegenwärtigkeit aber ungebrochen erhalten geblieben ist.

Japanische Puppe,
 1982,
 Öl auf Leinwand,
 70 x 100 cm

Scharfäugig, 2010, Acryl, Tusche, Collage auf Acrylglas, 3 Platten,  69 x 52,8 x 5 cm

face a face,
 2000,
 Tusche,
 Kreide,
 Collage,
 36,5 x 28 cm

Gestaffelte Gesichter 2009, Acryl, Tusche, Collage auf Acrylglas, 8 Platten, 69 x 68,8 x 57,5 cm

In der Werkgruppe der in den letzten Jahren entstandenen Acrylglasarbeiten hat Karin Witte die Frage nach dem Figur-Raum-Kontinuum gesondert thematisiert. Gestaffelte Acrylglasplatten werden dabei in Teilen farbig gestaltet, sodass in der Gesamtschau ein vollständiges Bild entsteht. Doch während die Serie der gerahmten Acrylglasbilder noch immer einen geschlossenen Bildprospekt voraussetzt, in dem die Tiefenstruktur jedoch nunmehr, vermittels des Lichtes, gegenüber dem traditionellen Tafelbild eine neue, real anmutende Qualität behauptet, erzeugen die aus mehreren Plexiglasplatten bestehenden, gestaffelten ‚Bildkästen’ eine plastisch-räumliche Wirkung (Abb. S. 60 ff). Fast immer resultiert die koloristische Erscheinung aus einer durch die Staffelung vorgegebenen Mischung. Nur selten erblickt man einen reinen und unverstellt wiedergegebenen Farbton. Vielmehr bildet sich dieser im Auge des Betrachters und wahrt zugleich den Anspruch einer räumlichen Transparenz.

Kulisse,
 2000,
 Acryl,
 Kreide; Kohle,
 Collage,
 59 x 83,5 cm

Kulisse, 2000, Acryl, Kreide; Kohle, Collage, 59 x 83,5 cm

Im Übrigen scheinen farbige Linien und Flächen in Bewegung, was dazu führt, dass der Betrachter nicht länger einen unverbindlichen Standpunkt einnehmen kann. Es ist dies eine bildnerische Disposition, die durch eine Reihe von Bildern sowohl vorbereitet wie auch begleitet wurde. Man betrachte in diesem Zusammenhang etwa das Blatt „Kulisse“ aus dem Jahre 2000, in dem klar begrenzte und sich gegenseitig abstoßende Farbflächen ihrerseits die Vorstellung von räumlicher Tiefe bedingen, ohne dass die Angabe einer illusionistischen Tiefenstruktur notwendig wäre. Es ist dies eine bildnerische Disposition, die auch durch die farbig gestaffelten Scheiben erfüllt wird, zumal diese ihrerseits für sich kaum plastisch-räumliche Präsenz reklamieren können. Aus diesem Grunde vermag die farbige Zeichnung eine vielfältige, letztendlich nicht fixierbare, gleichwohl in einem unmittelbaren und elementar anmutenden Sinne räumliche Gegenwärtigkeit anzunehmen. Weit mehr noch als ihre Tafelbilder bzw. Papierarbeiten erzeugen Karin Wittes Plexiglaskästen einen sich unmittelbar mitteilenden Farbraum, der jedoch von vornherein jegliche Haptik ausschließt. Es ist dies eine bildnerische Position, die über viele Jahre hinweg in ihren zweidimensionalen Arbeiten durch den Verzicht auf eine lokalfarbige Gebundenheit vorbereitet wurde.

Unter diesen Prämissen nähern sich ihre Bilder einer gewissen Abbildlichkeit. Doch setzen sie diese eben nicht länger unabdingbar voraus. Wenn man so will, beschreibt der „farbige Weg“ das eigentliche Ziel. Das aber hebt jegliche Maßstäblichkeit auf. Abbildlichkeit kann in bestimmten Blickwinkeln eine normative Kraft entfalten, wenngleich sie durch eine geringfügige Veränderung des Betrachterstandpunktes bereits außer Kraft gesetzt werden und sich eine gänzlich freie farbliche Disposition entfalten kann. Aber auch diese erhebt den Anspruch fortgesetzter Bewegung, innerhalb deren sich eine Linie oder eine farbige Fläche ausbreitet oder aber wieder vergeht. Aus diesem Grunde kommt weder der Prozess des Malens noch derjenige der formalen oder inhaltlichen Vereinnahmung jemals zur Ruhe. Sehen geht demnach mit der Erfahrung von Vitalität und Intuition, mitunter jedoch auch mit einer existenziell bestürzenden, weil nicht länger eindeutig bestimmbaren Erfahrung einher. Das Bild setzt einen schöpferischen Prozess voraus und erklärt den Betrachter zu einem gleichwertigen Partner, der die strukturell offene Anlage zwar zu einem vorläufigen Abschluss bringen kann, um sie freilich im nächsten Augenblick durch eine gänzlich andere, jedoch prinzipiell gleichwertige zu ersetzen.

Anmerkungen

1 Karin Witte, Notizen. In: Karin Witte. Bilder aus vier Jahrzehnten. Mit einem We rk verzeichnis der Druckgrafik, Fischerhude 2004, S. 22

2 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1985, S. 176

3 Ebenda S. 177 f.

4 Witte, Notizen. In: K.W. Bilder aus vier Jahrzehnten, S. 22

5 Vgl. u. a. Thomas Gädeke, Zur Grafik. In: K.W. Bilder aus vier Jahrzehnten, S. 161 ff.